Vogelzugforschung

Die Vogelzugforschung der letzten Jahrzehnte war besonders von zwei Richtungen bestimmt: der Erforschung und Beschreibung der Zugwege und Überwinterungsgebiete, und der Suche nach den zeitlichen und räumlichen Steuerungsmechanismen.

Erst in jüngerer Zeit gewinnen Fragen innerhalb der ökologischen und evolutionären Vogelzugforschung an größerer Bedeutung, auch aus Gesichtspunkten des Arten- und Naturschutzes. Zentral ist dabei die Frage nach dem relativen Anteil genetischer und umweltbedingter Komponenten des realen Zugablaufs. Während die grundsätzliche endogene Natur und Heritabilität des Zugverhaltens bei Singvögeln modellhaft untersucht worden ist, ist über die Rolle der Umweltinteraktion bei der Umsetzung angeborener Zugmerkmale nur wenig bekannt. Ferner sind die ultimaten Entscheidungskriterien, die zur Evolution art- und populationsspezifischer Zugstrategien führen, nach wie vor unverstanden. Von besonderer Bedeutung hierbei ist die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen Ressourcenverfügbarkeit und den energetischen Anforderungen des Zug- und Rastverhaltens, und somit nach den ultimaten wie proximaten Entscheidungsprozessen der Individuen während des Zuges. Diese Prozesse sind von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt. Unsere bisherigen Untersuchungen an z. B. Steinschmätzern, Pfuhlschnepfen oder Kiebitzregenpfeifern zeigen, dass diese Faktoren durch die am IfV gegebene Kombination aus Freilandbeobachtung, Freilandexperiment und Untersuchungen in kontrollierten Haltungsbedingungen erfolgreich untersucht werden können. Diese Ansätze werden konsequent weiterentwickelt.

Auch die Suche nach den stoffwechselphysiologischen und biochemi­schen Grundlagen des Zugverhaltens gewinnt neue Bedeutung. Hierzu hat besonders der technologi­sche Fortschritt in der physiologischen und biochemischen Analytik beigetragen, womit heute Verfahren zur Verfügung stehen, die Untersuchungen auch am lebenden Kleinvogel er­möglichen. Dabei wenden wir uns der Frage zu, in wie weit sich Zug- und Standvögel in grundsätzlichen biochemischen Mechanismen unterscheiden. In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass die Fettdeposition von Zugvögeln syndromatisch in vieler Hinsicht humaner Diabetes Typ IIb ähnelt, im Gegensatz zu ihr aber ein jahreszeitlich regelmäßig wiederkehrender kontrollierter Vorgang ist.

Ebenfalls noch wenig bearbeitet ist die Frage nach dem adaptiven Wert von Zugverhalten. Nach wie vor wird Zugverhalten zu isoliert betrachtet, und erst allmählich wird anerkannt, dass es eigentlich nur ein Element eines umfassenderen und komplexen Life-history Syndroms ist. Dazu gehören insbesondere z.B. Untersuchungen zu den Konsequenzen eines Zugmodus für den Fortpflanzungserfolg und zu den Beziehungen zwischen elterlicher Investition und Zugablauf sowie Zugerfolg.